Die Struktur des Menschen (Dan Armon 2008)

Was der Alexander-Technik zugrundeliegt, ja was sie tatsächlich erst möglich macht, ist die Tatsache, dass dem Menschen die Fähigkeit gegeben ist, ein volleres Leben zu führen. Das bedeutet, das das Ringen mit den Beschränkungen des Lebens nicht einfach eine objektive Bedingung ist, die wir zu akzeptieren haben, sondern dass es möglich ist, deren Einfluss zu reduzieren. So betrachtet reiht die Technik sich ein in eine lange Tradition von Disziplinen westlicher und anderer Kulturen und fügt dem Bestreben des Menschen, ein besseres Leben zu führen, etwas Besonderes und Einzigartiges hinzu. Dieser Wunsch nach Verbesserung ist allerdings nicht allgemein verbreitet und kaum verbunden mit den weiter verbreiteten Bedürfnissen nach Bequemlichkeit, Technik, Wirtschaft, Gemeinschaft, sondern bezieht sich auf den ganz persönlichen Gebrauch des Einzelnen.

Alexander war Schauspieler und die Heiserkeit, an der er litt, bedrohte seine Karriere. Zu seiner Überraschung entdeckte er, dass seine Heiserkeit das Resultat von Gewohnheitsmustern, welche er über die Jahre entwickelt hatte, war und nicht die Folge einer Krankheit, die ihn befallen hätte. Er selbst war der Urheber seiner Störungen, er war gefangen in dem, was er selbst entwickelt hatte und er war nicht in der Lage, einen Ausweg zu finden. Da er an die Fähigkeit des Menschen glaubte, Freiheit zu erlangen und Verantwortung für sein Schicksal zu übernehmen, ließ er nicht davon ab, eine Lösung für sein Problem zu finden.

Ein volles Leben ohne Beschränkungen durch Gewohnheitsmuster lässt sich wie folgt symbolisieren:

Der Pfeil im Kreis repräsentiert die Summe der Lebenskräfte, die den Menschen ausmachen und die sich in erster Linie durch die volle Form des Körpers ausdrücken. Der Körper dehnt sich aus zu seiner vollen Gestalt. Diese Ausdehnung endet erst dort, wo das Leben ihr objektiv die Grenzen setzt. Dieses nach außen gerichtete Streben ist dem Menschen eigen von Geburt an.

In jeder Handlung kontrahieren die beteiligten Muskeln des Körpers, und am Ende der Handlung sollten sie ihre Kontraktion beenden und zu ihrer vollen Länge zurückkehren. Aufgrund der Macht der Gewohnheit entspannen sich die Muskeln allerdings nicht einmal am Ende der Handlung vollständig. Die Anhäufung gewohnheitsmäßiger Kontraktionen führt dazu, dass sich die Statur ganz allgemein verkürzt, was einer zentripetalen Bewegung entspricht, die im nächsten Bild dargestellt wird:
Die Kombination dieser beiden Aspekte wird im nächsten Bild veranschaulicht:

Dies ist unsere Situation.

Die Arbeit in der Alexander-Technik besteht darin, die Richtung des einwärts weisenden Pfeiles umzukehren, sodass die gewohnheitsmäßigen Kontraktionen sich lösen und und der Körper in ausbreitender Bewegung seine volle Größe zurückgewinnen kann.

Das zweite grundlegende Konzept der Alexander-Technik besteht darin, dass es bei all dem, was wir tun, unmöglich ist, Körper und Geist zu trennen. Wenn ich Geist sage, meine ich sowohl das Bewusstsein als auch das Unbewusste. Die Ursache unserer Kontraktionen ist nicht nur körperlicher oder nicht nur geistiger Art, sodass auch ihre Lösung eine sowohl körperliche als auch geistige zu sein hat. Übungen allein führen nicht zur Befreiung von diesen Mustern, es bedarf bewusster Arbeit. Die Gewohnheit führt zu Handlungen, die mit unbewussten Kontraktionen verbunden sind. Und nur durch bewusste Arbeit ist es möglich, sich dieser Handlungen bewusst zu werden und sie zu unterlassen.

Für den Anfänger mag eine solche Erklärung zu abstrakt und schwierig zu verstehen sein. In der konkreten Arbeit ist es notwendig, ins Detail zu gehen und weitergehende Erklärungen zu geben. So betrachten wir die grundlegende Form des Körpers, der von sich aus das Bestreben hat, zu seiner vollen Größe zu gelangen: der Kopf leicht, oben auf dem Rumpf, ein bisschen nach vorn weisend, der Rumpf darunter, hinter dem Kopf, sich längend und weitend, was bedeutet, dass er sich in alle Richtungen ausbreiten möchte, der Hals zwischen Kopf und Rumpf, frei, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Kopf und Rumpf sicherstellend, die Glieder des Körpers sich aus dem Rumpf heraus längend. Gewohnheit führt zu dem entgegengesetzen Muster: Der Kopf wird zurück in den Nacken gezogen und liegt schwer auf der Wirbelsäule, der Rumpf verkürzt und verengt sich, der Hals versteift und verkürzt sich, die Glieder haben die Tendenz, sich in den Körper zu ziehen.

Der Student lernt, auf bewusster Ebene die Gewohnheit sich zu kontrahieren wahrzunehmen und sich selbst anzuleiten, diese Kontraktionen zu unterlassen, um so seiner Statur zu erlauben, zu ihrer vollen Größe zurückzukehren. Körperteil für Körperteil geht er mit seiner Aufmerksamkeit durch seinen Körper und gibt sich selbst Anweisungen, die ihm helfen, die Kontraktionen zu unterlassen und die einzelnen Teile ihre Freiheit wiedergewinnen zu lassen. Alle Teile des Körpers sind aufs Engste miteinander verbunden, was es unmöglich macht, einen Teil ohne die Beteiligung anderer Teile zu entspannen. Eine Arbeit, die sich auf nur einen begrenzten Teil des Körpers beschränkt, ist zum Scheitern verurteilt, da die Macht der Gewohnheit immer das System als Ganzes erfasst. Dies ist der Grund, warum der Schüler seine Anweisungen an den ganzen Körper zu geben hat, ohne aber das Bestreben zu haben, gleich das Ganze, so wie es im Bild oben dargestellt ist, erreichen zu wollen. Alexander drückt dies mit den Worten aus: Eins nach dem anderen, alle zugleich. Auch wenn die Aufmerksamkeit auf einen Teil fokussiert ist, hat der Schüler zu bedenken, dass dieser Teil mit dem Ganzen verbunden ist und dass die Arbeit darauf ausgerichtet ist, das System als Ganzes zu befreien.